ISO 14971:2012 (Anhang ZA): Die wichtigsten Änderungen der Norm
Quasi über Nacht, nämlich vom 31.08.2012 zum 01.09.2012 wurde die ISO 14971:2012 ohne Übergangsfrist als harmonisierte Norm für das Risikomanagement für Medizinprodukte veröffentlicht. Dieser Artikel stellt Ihnen diese Änderungen vor.

Mit den Änderungen durch die ISO 14971:2012 gibt es keine prinzipiell akzeptablen Risiken mehr.
Eine der wesentlichen Neuerungen der Norm ISO 14971 im Jahr 2012 (ISO 14971:2012) besteht in der Anforderung, dass generell alle Risiken so weit wie möglich zu minimieren sind, es also keine per se akzeptablen Risiken gibt. Die Klarstellungen und Ergänzungen im informativen(!) Anhang ZA empfinde ich teilweise als Neudeutung des bisher Geschriebenen. Gehen wir die einzelnen Teilkapitel dieses Anhangs durch:
- Kapitel: Während es bisher „generell“ vernachlässigbare Risiken gab, sind diese jetzt auf einmal verschwunden. Jedes einzelne(!) Risiko ist zu bewerten. Das bedeutet, dass es keine Risikoakzeptanzmatrix aus akzeptablen, ALARP und nicht akzeptablen Risiken (also „grün, gelb und rot“) mehr geben kann, sondern nur noch gelbe und rote Risiken gibt. Das ist wirklich etwas Neues.
- Kapitel: Es existiert insbesondere keine Schwelle mehr, unterhalb derer ein Hersteller nichts tun müsste, um Risiken zu minimieren. Es existiert jetzt nur noch eine Schwelle, unterhalb derer die bereits reduzierten Risiken akzeptiert werden können. Das ist ein Unterschied!
- Kapitel: Weiter verlangt die Norm, dass Risiken nicht mehr nur „as low as reasonable practical“ reduziert werden dürfen, sondern „as low as reasonable possible“ reduziert werden müssen. Der Unterschied besteht in ökonomischen Überlegungen, die in der zweiten Version keine Rolle mehr spielen dürfen.
- Kapitel: Im alten Verständnis der ISO 14971 war die Gesamt-Risiko-Nutzenbewertung eigentlich nur dann erforderlich, wenn nicht alle Risiken im grünen Bereich lagen. Diese Gesamtbewertung, die alle Risiken umfasst, ist spätestens jetzt mit der ISO 14971:2012 immer Pflicht.
- Kapitel: Die „alte 14971“ hatte man so verstehen können, dass man zwischen den Maßnahmen „inhärente Sicherheit“, „Schutzmaßnahme“ und „Information“ wählen könne, so lange man in dieser Reihenfolge versucht, die Maßnahmen umzusetzen. Nun wird klargestellt, dass alle Maßnahmen – so möglich – kumulativ anzuwenden sind.
Weshalb eine inhärent sichere Maßnahme aber weiterer Maßnahmen bedarf, erschließt sich mir nicht. Darauf zu verzichten, zuerst inhärente Maßnahmen anzustreben, war hingegen schon immer im Widerspruch zur Norm.
- Kapitel: Dieses Kapitel schließt direkt an das eben Gesagte an und wiederholt, dass die MDD von „inherently safe design and construction“ spricht. Das eigentliche Problem, nämlich die fehlende Definition der inhärenten Sicherheit, wird aber weiter nicht behoben.
- Kapitel: Die Informationen an den Nutzer dürfen nicht länger als risikominimierende Maßnahmen verstanden werden. Das halte ich erneut für missverständlich. Natürlich verschwindet ein Risiko nicht dadurch, dass man einen Nutzer generell über das Risiko informiert. Wenn jedoch, um ein Beispiel zu nennen, ein Medizinprodukt bei der Eingabe eines Medikaments den Benutzer fragt, „Sind Sie sicher, dass Sie Herrn XY ein Penicillin trotz dessen Penicillin-Allergie verschreiben wollen?“, dann ist das durchaus eine Maßnahme, die geeignet ist, das Risiko durch das Produkt zu reduzieren, hier ein falsches Medikament damit zu verschreiben. Die Reduktion des Risikos ergibt sich aus der Reduktion der Wahrscheinlichkeit.
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Wie es zur ISO 14971:2012 kam
Forderung der Medizinprodukte-Richtlinie
Harmonisierte Normen dienen dazu, Herstellern konkrete Hinweise zu geben, wie sie Forderungen der Richtlinien einhalten. Erfüllen die Hersteller die Normen, vermutet man, dass sie auch die Forderungen der Richtlinien erfüllen.
Das wichtigste Anliegen – vielleicht sogar das einzig relevante – besteht darin, dass Medizinprodukte über ein akzeptables Risiko-/Nutzenverhältnis verfügen müssen. D.h. dass die Produkte den Patienten wirklich helfen und gleichzeitig die Nebenwirkungen so weit wie möglich reduziert werden müssen.
Die Probleme mit der (alten) ISO 14971
Der ALARP-Bereich im Risikomanagement ist definiert als der Bereich, bei dem Risiken „as low as reasonable practical“ (ALARP) reduziert werden müssen.Doch dieses „so weit wie möglich“ versteht die ISO 14971 ein wenig anders als die MDD – zumindest formuliert sie nicht ganz klar. Jedes Risiko gilt es „so weit wie möglich“ zu minimieren und nicht einige nur „as low as reasonable practical“. Was heißt schon „practical“? So weit, bis man keine Lust mehr hatte? So weit, bis man das Gerät neu designen müsste? So weit, bis keine Zeit und kein Geld mehr da sind?
Diese Praktikabilität hat in der Praxis viel mit ökonomischen Überlegungen zu tun. Und die haben im Risikomanagement nichts verloren. Eine Konsequenz könnte darin bestehen, diesen ALARP-Bereich einfach abzuschaffen. Eine andere darin, für jedes ALARP-Risiko zu begründen, weshalb eine Reduzierung nicht sinnvoll möglich ist. Also eher ein „as low as reasonable possible„. So handhabe ich das bei meinem Kunden schon die ganze Zeit, für die Klarheit bin ich aber dankbar.
Änderung der ISO 14971:2012 Welche Alternativen zur Verfügung standen
Doch was macht man, wenn sich herausstellt, dass eine Norm nicht mehr geeignet ist, diese Vermutung aufrechtzuerhalten? Beispielsweise, weil sie die Forderungen der Richtlinien unvollständig oder gar falsch adressiert? Man hat mehrere Möglichkeiten:
- Man deharmonisiert die Norm.
- Man ändert die Norm.
- Man interpretiert das bisher Geschriebene neu.
Für kurze Zeit wurde offensichtlich diskutiert, die ISO 14971 zu deharmonisieren(!). Nun hat man sich für die dritte Variante entschieden und einen Anhang zu ergänzen. Den Autoren der ISO 14971 gehen die Buchstaben für die Anhänge aus – wir sind jetzt bei ZA angekommen. An Ideen mangelt es Ihnen jedenfalls nicht. Denn das, was die 2012er Ausgabe von ihren Vorgängern unterscheidet, hat es in sich.
Sollten Sie Fragen zur praktischen Umsetzung der ISO 14971:2012 und den Neuerungen haben, dann nutzen Sie die kostenlose Auditsprechstunde.
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