Unter der Barrierefreiheit – auf englisch Accessibility – versteht man die Gestaltung von Angeboten, die auch von Menschen mit körperlichen Einschränkungen genutzt werden können. Der Begriff Angebote umfasst Bauwerke ebenso wie digitale und nicht-digitale Produkte. Das schließt auch Medizinprodukte (Geräte, App, stand-alone Software) mit ein.
Welche Anforderungen an die Accessibility Hersteller von Medizinprodukten beachten sollten, um der wachsenden Anzahl an Klagen zu entgehen, erfahren Sie in diesem Beitrag.
Finden Sie heraus, wie ein Mensch mit Sehbehinderung eine Webseite „erfährt“.
Accessibility: Um was es geht
Definition
Das Behindertengleichstellungsgesetz definiert den Begriff “Barrierefreiheit“ wie folgt:
„Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.“
Ziele der Barrierefreiheit (Accessibility)
Die Barrierefreiheit ist somit keinesfalls auf Gebäude beschränkt: Es geht um mehr als nur um Rampen und Fahrstühle für Rollstuhlfahrer. Vielmehr gilt es, möglichst jedem Menschen mit Einschränkungen die Teilhabe am Leben zu ermöglichen – möglichst ohne die Hilfe Dritter.
Die barrierefreie Nutzung soll beispielsweise folgenden Gruppen ermöglicht werden:
- Menschen mit Behinderungen (insbesondere mit sensorischen und motorischen Einschränkungen)
- Alte Menschen, deren Anzahl kontinuierlich wächst
- Kranke und Verletzte
- Menschen mit „anderen“ intellektuellen, sprachlichen oder kulturellen Eigenschaften
Regulatorische Anforderungen an die Barrierefreiheit
1000e Klagen wegen mangelnde Accessibility / Barrierefreiheit
Wenn immer es regulatorische Anforderungen gibt, finden sich auf der einen Seite Menschen und Institutionen, die dagegen verstoßen, und auf der andere Seite Menschen, die gegen diese Verstöße klagen.
So steigt die Anzahl der entsprechenden Gerichtsverfahren in den USA kontinuierlich – im Jahr 2016 um 37%.

Die Anzahl der Klagen wegen mangelnder Accessibility / Barrierefreiheit steigt: Im Jahr 2016 um 37% (Quelle).
Einer der Haupttreiber dieses Wachstums sind digitale Angebote.
Als Medizinproduktehersteller sollten Sie Ihre Angebote wie Webseiten und Apps, speziell jene, die sich an Laien wenden, barrierefrei gestalten, um Klagen zu vermeiden.
Regulatorische Anforderungen in Deutschland und Europa
Zahlreiche Gesetze und Verordnungen verfolgen das Ziel, die „Accessibility“ zu erhöhen. Dazu zählen:
- Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz BGG)
- Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV)
- Luftverkehrsgesetz (LuftVG)
- Personenbeförderungsgesetz (PBefG)
- u.v.m.
Beispielsweise fordert die BTIV Folgendes:
- Es müssen alternative CAPTCHAs bereitstehen
- Für Video-Dateien müssen Text-Alternativen oder eine Tonspur mit gleichwertigen Informationen bereitstehen
- Farbe darf nicht als einziges Mittel zur Kodierung verwendet werden
- Der Text muss um 200% vergrößert werden können, ohne dass es zu einem Verlust von Funktionalität oder Inhalt kommt
- Die gesamte Benutzerproduktschnittstelle muss sich ausschließlich über die Tastatur bedienen lassen
Andere europäische Staaten haben vergleichbare Anforderungen. Beispielsweise fordert Großbritannien im Equality Act 2010 ebenfalls die Barrierefreiheit.
Regulatorische Anforderungen in den USA
Das wichtigste Gesetz mit Bezug zur „Accessibility“ in den USA ist der „The Americans with Disabilities Act“ (kurz ADA). Eigentlich reguliert dieses Gesetz v.a. bauliche Anlagen staatlicher Institutionen sowie den öffentlichen Raum. Allerdings dehnen die „Anwälte“ den „Public Space“ auch auf das Internet und damit auf öffentliche Webseiten wie z.B. die von Fluglinien oder Online-Händlern aus.
Man überträgt also den Anspruch auf Barrierefreiheit auf digitale Angebote. Speziell dafür fühlen sich auch die überarbeiteten Section 508 Guidelines zuständig. Diese Vorschriften betreffen zunächst die digitalen Angebote der staatlichen Institutionen. Doch leitet man auch hieraus Anforderungen an kommerzielle / öffentliche Angebote ab.
Interessant ist, dass das Gesetz konkrete Standards (z.B. des W3C) referenziert.
Accessibility-Standards
Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 des W3C
Der bekannteste und am meisten referenzierte Standard stammt vom W3C-Konsortium, das auch für Standardisierung von HTML, CSS und XML verantwortet. Dieser Standard sind die W3C’s Web Content Accessibility Guidelines, or WCAG 2.0.
Sie stellen nicht nur wie die BITV (s.o.) Anforderungen beispielsweise an die Bedienbarkeit ohne Maus oder an Texte als Alternative zu Videos oder Bildern. Die WCAG geben anhand von über 60 Aspekten vor, wie diese Anforderungen bei Web-Angeboten konkret umgesetzt werden können.

Screenshot vom WCAG (Quelle) Zum Vergrößern klicken
Das W3C zeigt sogar ein Vorher-Nachher-Beispiel, anhand dessen man nachvollziehen kann, wie man eine schlechte Webseite in eine gute überführt.
ISO 9241
Die ISO 9241-Normenfamilie stellt Anforderungen an die Gestaltung von Benutzer-Produkt-Schnittstellen. Davon profitieren Menschen mit und ohne Einschränkungen gleichermaßen. Dazu zählen Anforderungen an die
- Informationsdarstellung
- Gestaltung von Formularen
- Gestaltung von Benutzungsschnittstellen für das WWW
- Benutzerführung
- Farbdarstellung
- Dialoggestaltung
Die ISO 9241 hat die Accessibility allerdings nicht im Fokus. Sie wird aber von der IEC 62366 referenziert.
Weitere Richtlinien
Der BBC setzt sich stark mit dem Thema Barrierefreiheit auseinander und hat dazu HTML guidelines und Mobile Accessibility guidelines veröffentlicht.
Spezielle Anforderungen an Medizinprodukte(hersteller)
Die IEC 62366-1 behandelt das Thema Barrierefreiheit nicht explizit. Sie fordert „nur“, dass die Hersteller die Anwender charakterisieren (u.a. bzgl. körperlicher Einschränkungen) und die Benutzer-Produkt-Schnittstellen entsprechend gestalten. Gleiches gilt für die FDA und deren Human Factors Engineering Guidance.
Medizinproduktehersteller sollten nicht nur (falls relevant) ihre Medizinprodukte, sondern auch ihre anderen Angebot wie Webseiten barrierefrei gestalten.
Accessibility Tools
Menschen mit Einschränkungen stehen zahlreiche Werkzeuge zur Verfügung, um digitale Angebote nutzen zu können:
- JAWS screen reader
- NVDA screen reader (Open Source)
- VoiceOver screen reader (Teil des iOS Betriebsystems)
- TalkBack screen reader (Teil des Android Betriebssystems)
- Windows Magnifier screen magnifier (Teil des Windows Betriebssystems)
- ZoomText screen magnifier
- Dragon Naturally Speaking voice recognition software, das oft von Menschen mit Bewegungseinschränkungen genutzt wird.
Diese Werkzeuge setzen voraus, dass die digitalen Angebote möglichst barrierefrei gestaltet sind. Beispielsweise setzt ein Screen Reader voraus, dass eine Webseite mit Überschriften (h1 – h6) strukturiert ist. Tabellen zur Formatierung sind hingegen kontraproduktiv.
Hören Sie sich hier an, wie ein Mensch mit Behinderungen eine Webseite mit einem Screenreader erfahren würde.
The New York Times
Accessibility prüfen / bewerten
Motivation
Medizinproduktehersteller sollten die Barrierfreiheit ihrer Produkte sicherstellen, um
- die gesetzlichen Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit für Menschen mit Einschränkungen zu erfüllen (à la IEC 62366, FDA, MDD, MDR),
- die gesetzlichen Anforderungen an die Barrierefreiheit im Allgemeinen zu erfüllen und entsprechende Klagen zu vermeiden,
- Risiken zu minimieren, die sich ergeben, wenn Menschen mit Einschränkungen die Produkte nutzen und
- den Markterfolg zu erhöhen, beispielsweise dadurch, dass die wachsende Anzahl älterer Anwender das Produkt einfach nutzen kann und will.
Methoden und Werkzeuge zum Prüfen der Barrierefreiheit
Folgende Methoden sind hilfreich, um die Barrierefreiheit von Produkten (inkl. Webseiten) zu bewerten:
- Inspektion mit Usability-Experten
- Visuelles Prüfen gegen die Spezifikationen z.B. der o.g. Standards (Usability-Verifizierung)
- Arbeiten ohne Maus
- Arbeiten ohne Monitor und mit Screen Reader
- Werkzeug-unterstütztes Vermessen von Schriftgrößen, Farben und Kontrastverhältnissen
- Teilnehmende Beobachtung von Menschen mit Einschränkungen: Das wäre eine Usability-Validierung (= summative Bewertung) mit repräsentativen Benutzern in einem repräsentativen Benutzungskontext.
Die Usability-Experten bedienen sich beispielsweise folgender Werkzeuge:
Die Prüfberichte liegen meist in folgender Form vor:
- Kurzer Bericht mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und Empfehlungen
- Detaillierte tabellarische Darstellung
- Nummer des Problems
- Beobachung, Problem
- Schwere
- Verletzte Regel
- Empfehlung
Fazit
Medizinproduktehersteller müssen nicht nur spezifische Gesetze für Medizinprodukte beachten, sondern auch Regularien, die sich an alle Produkte und Angebote richten. Dazu zählen die Anforderungen an die Barrierefreiheit (Accessibility).
Sie sollten neben Ihren Produkten auch andere Angebote wie Webseiten gesetzeskonform gestalten.
Die Anforderungen an die Barrierefreiheit sind klar benannt und lassen sich schnell prüfen.
Diese Prüfungen helfen dabei, auch Probleme mit der Gebrauchstauglichkeit rasch zu finden und zu beseitigen, die nicht spezifisch für Menschen mit Einschränkungen sind.
Mit herzlichem Dank an Dana Douglas für den wertvollen Input