Die ISO 14971, die Norm zum Risikomanagement bei Medizinprodukten, definiert den Begriff Schweregrad (von Schäden) als „Maß der möglichen Auswirkungen einer Gefährdung„.
Lesen Sie in diesem Beitrag, welche typischen Schwierigkeiten Sie beim Klassifizieren von Schweregrade vermeiden sollten und welche Kodiersysteme Ihnen dabei zur Verfügung stehen.
Schweregrade von Schäden quantifizieren und klassifizieren
Die Risikoakzeptanzmatrix dient Herstellern dazu, die Risiken anhand der Wahrscheinlichkeit und Schweregrade von Schäden zu bewerten. Das setzt voraus, dass Wahrscheinlichkeiten und Schweregrade überhaupt quantifiziert und damit in Klassen einteilbar sind.

Die Herausforderung, vor der viele Medizinprodukte-Hersteller stehen, besteht darin, dass es nicht einfach ist, den Schweregrad von Schäden zu quantifizieren. Es bedarf scharfer Klassifizierungsmerkmale, um Schäden präzise und reproduzierbar nach einem Schweregrad zu klassifizieren.
Beispiele für Klassifizierungsmerkmale von Schäden
- Tod (j/n)
- Hospitalisierungsdauer > n Tage (j/n)
- Grad der Behinderung > x % (j/n)
- Intensivmedizinische Behandlung (eines Nicht-Intensivpatienten) notwendig (j/n)
- ärztliche Intervention notwendig (j/n)
- reversibel (j/n)
- Verkürzung der Lebenserwartung > n Monate (j/n)
- Verkürzung der Lebenserwartung > x % verglichen mit der Lebenserwartung bei „richtiger Behandlung“ (j/n)
- Schmerz-Level > X (j/n)
- Lebensqualität, Psychische Belastung gemäß „Quality of Life“-Kriterien
Die MEDDEV-2.12. enthält eine Definition des Begriffs „schwerer Schaden“:

Möglicherweise hilft Ihnen das beim Formulieren Ihrer Schweregradklassen.
Schweregrad: Beispiele für Klassifizierungsschema
Eine Klassifizierung zur Einteilung (kurzfristiger) Schäden finden Sie bei Wikipedia (NACA Score). Diese Einteilung stammt ursprünglich vom National Advisory Committee for Aeronautics – ursprünglich entwickelt für die Klassifizierung von Unfällen in der Luftfahrt. Das Problem dieses Scores besteht darin, dass nur die „Amplitude“ des Schadens, nicht aber dessen zeitlicher Verlauf Berücksichtigung finden.
Zur Einteilung langfristiger Schäden, d.h. Behinderungen sind die Tabellen der Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV hilfreich. Beispielsweise enthält diese Tabelle folgende Einträge:
Erkrankung | Behinderungsgrad |
---|
Hirnschäden mit kognitiven Leistungsstörungen (z. B. Aphasie, Apraxie, Agnosie)- leicht (z. B. Restaphasie) 30-40
- mittelgradig (z. B. Aphasie mit deutlicher bis sehr ausgeprägter Kommunikationsstörung)
- schwer (z. B. globale Aphasie)
| |
Linsenverlust eines Auges: Sehschärfe 0,1 bis weniger als 0,4 | 20 % |
Atemnot bereits bei leichtester Belastung oder in Ruhe; statische und dynamische Messwerte der Lungenfunktionsprüfung um mehr als 2/3 niedriger als die Sollwerte | 80-100 % |
Verlust eines Daumens | 25 % |
Wenn Sie an weiteren Werten interessiert sind, werfen Sie einen Blick in die o.g. VersMedV oder googeln Sie die Begriffe „Grad der Behinderung (GdB)“ und „Grad der Schädigungsfolgen (GdS)„.
Schweregrad von Schäden: Herausforderungen bei der Bewertung
Die Bewertung dieser Schweregrade erweist sich als schwierig:
- Was ist schlimmer: der Patient, dessen Knie durch das Versagen eines Medizinprodukts dauerhaft steif ist, oder der Patient, der sich kurzfristig in einer lebensbedrohlichen Situation befand, die nur Dank des Intensivmediziners ohne jede Folgeschäden gelöst wurde?
- Sind die zwei Monate, die man einem Todkranken nimmt, der nur noch ein halbes Jahr zu leben hat, schlimmer oder weniger schlimm als die zwei Monate, die einem Menschen fehlen, der noch 10 Jahre zu leben hat?

Viele Scores betrachten nur den Schweregrad von akuten Schäden. Ein nicht lebensbedrohlicher aber auch nicht reversibler Schaden wie eine dauerhafte Behinderung lässt sich in dieses Schema nicht gut einordnen. Es hilft uns also nicht bei der ethischen Diskussion darüber, ob man bei Schäden eher den maximalen kurzfristigen Effekt („die Höhe der Schadenskurve“) oder eher die zeitliche Dauer des Effekts oder eher das „Integral“ dieser Kurve nutzen soll.
Tipps zur Definition der Schweregrad-Klassen
- Beim Risikomanagement scheitern viele bei einer der ersten Hürden, dem Erstellen der Risikoakzeptanzmatrix. Bereits deren Schweregradklasse ist unvollständig klassifiziert. So finde ich oft nur Attribute wie „leicht“, „ernst“, „schwer“ und „katastrophal“. Wie aber ein „schwerer“ Schaden definiert ist, fehlt in der Risikomanagementakte.
- Ergänzen Sie als Hersteller die Definition der Schwergradklassen durch konkrete Beispiele für Ihr Medizinprodukt. Dann wird es Ihnen bei der Risikoanalyse (konform mit ISO 14971) einfacher fallen, abzuschätzen, wie hoch der Schweregrad von Schäden sein kann, die durch Ihr Medizinprodukt verursacht werden.
- Im Risikomanagement machen Medizinprodukte-Hersteller oft den Fehler, Schweregradklassen wie „Potenziell tödlich“ oder „birgt Gefahr einer lebensbedrohlichen Verletzung“ festzulegen. Das ist nicht korrekt, denn die Wahrscheinlichkeit darf nicht in die Definition der Schweregradklassen von Schäden einfließen. Die Wahrscheinlichkeitsachse ist davon unabhängig, zumal bereits Risiken als die Kombination aus Wahrscheinlichkeit und Schweregrad definiert sind.
- Vermeiden Sie ethisch diskussionsbedürftige Reihenfolgen beim Schweregrad von Schäden: Zwei Verletzte sind also schlimmer als ein Toter?
- Achten Sie darauf, dass Sie die Schweregrade von Schäden vollständig definieren. Also z.B. auch mehrere „schwere irreversible Verletzungen“ ,„für mehrere Personen“ .
Im Auditgarant lernen Sie Schritt für Schritt und ganz konkret, wie Sie den Schweregrad von Schäden in Ihrer Risikobewertungsmatrix definieren. Sie können anhand von mehreren Beispielen auch prüfen, ob Sie fehlerhafte Definitionen erkennen und korrigieren können.