Die Grenzen von Eigenherstellung und Inverkehrbringung von Medizinprodukten drohen besonders bei Software-Produkten zu verschwimmen. Stellt das Skript, mit dem der Arzt das KIS erweitert, bereits eine Eigenherstellung dar?
Erfahren Sie in diesem Artikel, wann eine Eigenherstellung vorliegt und was Sie als Hersteller und Betreiber beachten müssen, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.
1. Was versteht man unter Eigenherstellung?
a) Definition
Das Medizinproduktegesetz definiert den Begriff Eigenherstellung:
Definition: Eigenherstellung
Medizinprodukte aus Eigenherstellung sind Medizinprodukte einschließlich Zubehör, die in einer Gesundheitseinrichtung hergestellt und angewendet werden, ohne dass sie in den Verkehr gebracht werden oder die Voraussetzungen einer Sonderanfertigung nach Nummer 8 erfüllen.
§3 MPG
Den Begriff der „Gesundheitseinrichtung“ definieren zum einen die MDR:
„Gesundheitseinrichtung“ bezeichnet
Definition: Gesundheitseinrichtung
„eine Organisation, deren Hauptzweck in der Versorgung oder Behandlung von Patienten oder der Förderung der öffentlichen Gesundheit besteht;“Es kann aber davon ausgegangen werden, dass sie damit Einrichtungen meint, die der Gesundung von Patienten dienen wie Krankenhäuser, Praxen, MVZ, Pflegeeinrichtungen und Rehakliniken. Die MDR schließt aber explizit aus (s. Erwägungsgründe): „Einrichtungen erfasst, die für sich in Anspruch nehmen, in erster Linie die gesundheitlichen Interessen oder eine gesunde Lebensführung zu fördern, wie etwa Fitnessstudios, Heilbäder und Wellnesszentren.“
Auch die MPBetreibV nennt eine entsprechende Definition:
Definition: Gesundheitseinrichtung
„im Sinne dieser Verordnung ist jede Einrichtung, Stelle oder Institution, einschließlich Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen, in der Medizinprodukte durch medizinisches Personal, Personen der Pflegeberufe oder sonstige dazu befugte Personen berufsmäßig betrieben oder angewendet werden.“b) Beispiele für die Eigenherstellung von Medizinprodukten
Eine Eigenherstellung liegt beispielsweise in folgenden Fällen vor:
- Ein Forscherteam einer Uniklinik entwickelt ein Gerät, mit dem Krebszellen mit Radiostrahlung zerstört werden, und wenden dieses Gerät an den Patienten der eigenen Klinik an.
- Der Medizintechniker eines Krankenhauses baut einen Visitenwagen aus einem handelsüblichen Wagen (Nicht-Medizinprodukt), einem EKG-Gerät, einem Laptop, auf dem das KIS läuft, einer Mehrfachsteckdose und einer Batterie zusammen.
- Die niedergelassene Onkologin entwickelt eine Excel-Tabelle mit Formeln, mit Hilfe derer sie die Dosis-Schemata für ihre Patienten abhängig von dem Körpergewicht, der Körpergröße und einiger Diagnosen berechnet.
Häufig sind Eigenherstellungen keine kompletten Neu-Entwicklungen, sondern
- Kombinationen von Medizinprodukten mit Nicht-Medizinprodukten,
- Änderungen von Medizinprodukten (außerhalb der vom Hersteller festgelegten Zweckbestimmung) und
- Verwendung des Produkts ggf. nach Änderungen zu einem vom Hersteller nicht vorgesehenen Zweck.
c) Abgrenzung Eigenherstellung und Inverkehrbringung
Bei der Abgrenzung von Eigenherstellung und Inverkehrbringung hilft erneut ein Blick ins Gesetz:
Definition: Inverkehrbringung
Inverkehrbringen ist jede entgeltliche oder unentgeltliche Abgabe von Medizinprodukten an andere. Erstmaliges Inverkehrbringen ist die erste Abgabe von neuen oder als neu aufbereiteten Medizinprodukten an andere im Europäischen Wirtschaftsraum. Als Inverkehrbringen nach diesem Gesetz gilt nicht
- die Abgabe von Medizinprodukten zum Zwecke der klinischen Prüfung,
- die Abgabe von In-vitro-Diagnostika für Leistungsbewertungsprüfungen,
- die erneute Abgabe eines Medizinproduktes nach seiner Inbetriebnahme an andere, es sei denn, dass es als neu aufbereitet oder wesentlich verändert worden ist.
Eine Abgabe an andere liegt nicht vor, wenn Medizinprodukte für einen anderen aufbereitet und an diesen zurückgegeben werden.
§3 MPG
Der wichtige Unterschied zwischen der Eigenherstellung und der Inverkehrbringung liegt darin, dass bei einer Eigenherstellung ein Medizinprodukt in einer Gesundheitseinrichtung hergestellt und in der gleichen Einrichtung auch verwendet wird, während bei der Inverkehrbringung eine „Abgabe an andere“ vorliegt.
D.h. wenn eine Gesundheitseinrichtung für eine andere Gesundheitseinrichtung ein Medizinprodukt erstellt, handelt es sich um eine Inverkehrbringung. Das wäre z.B. dann der Fall, wenn ein Krankenhaus einem anderen Krankenhaus seine Skripte überlässt. Ob dies entgeldlich oder unentgeldlich geschieht, ist dabei unerheblich.
d) Abgrenzung Eigenherstellung und Parametrierung / Customizing
Klinische Informationssysteme (z.B. PDMS, KIS) bieten unzählige Möglichkeiten der Parametrierung, um das Produkt für die jeweilige Klinik, deren Abläufe und anzuschließende Produkte und Systeme passend zu konfigurieren.
Bedeutet solch eine Konfiguration bereits eine Eigenherstellung? Wie sieht es aus, wenn die Anpassung auch kleine Programme z.B. in Form von Skripts erlaubt? Beispielsweise wenn der Arzt einen eigenen „Score“ berechnen will, um kritische Patienten schneller zu identifizieren?
Die Zweckbestimmung entscheidet
Ob eine Eigenherstellung oder Parametrierung vorliegt, hängt nicht davon ab, ob programmiert wird, ob eine grafische Benutzerschnittstelle Parameter einstellen lässt oder ob Werte in einer Datenbank verändert werden. Es ist die Zweckbestimmung, die entscheidet, ob eine Anpassung eines Medizinprodukts als Eigenherstellung zu betrachten ist.
Beispiele
Wenn beispielsweise die Zweckbestimmung vorsieht, dass entsprechend qualifizierte Anwender Skripts in einer Maske eingeben dürfen, um so eine eigene Funktionalität zu implementieren bzw. eine bestehende Funktionalität zu ändern, dann fällt dieses Programmieren in den bestimmungsgemäßen Gebrauch. Es liegt keine Eigenherstellung vor.
Falls hingegen ein Anwender ein identisches Programm schreibt, diese „Erweiterung“ vom Hersteller aber nicht vorgesehen ist, wäre das als Eigenherstellung zu verstehen. Der Anwender bzw. die Gesundheitseinrichtung müssten die entsprechenden regulatorischen Voraussetzungen erfüllen, die weiter unten vorgestellt werden.
Verantwortung
Zusätzlich muss die Frage der Verantwortung geklärt werden: Zwar hat der Hersteller die Pflicht, mögliche Benutzungsfehler (z.B. durch falsche Programmierung oder Parametrierung) in der Risikoanalyse zu betrachten. Das entbindet die Betreiber / Benutzer aber nicht von der Verantwortung für das eigene Tun.
Der Hersteller muss beispielsweise sicherstellen, dass Benutzungsfehler nicht Daten korrumpieren oder das System destabilisieren. Die Betreiber / Anwender müssen beispielsweise sicherstellen, dass eingegebene Formeln mathematisch und medizinisch korrekt sind.
e) Abgrenzung Eigenherstellung und Kombination von Produkten
Viele Eigenherstellungen erfolgen dadurch, dass die Gesundheitseinrichtungen Produkte kombinieren (siehe Beispiele weiter oben). Doch nicht jede Kombination bedeutet eine Eigenherstellung.
Wenn eine Gesundheitseinrichtung mehrere Medizinprodukte (mit CE-Zeichen) zu einem neuen Produkt kombiniert und wenn sie dabei diese Produkte in ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung verwendet (und damit diese Kombination im Sinne der jeweiligen Hersteller ist), hat die Gesundheitseinrichtung kein neues Produkt kreiert, es hat keine Eigenherstellung vorgenommen.
Wenn hingegen die Gesundheitseinrichtung bzw. deren Anwender Medizinprodukte und Nicht-Medizinprodukte kombinieren, insbesondere ohne dass diese Kombination vom Hersteller des Medizinprodukts vorgesehen wurde, ist eine Eigenherstellung zu vermuten.
2. Regulatorische Anforderungen
a) Medizinproduktegesetz MPG
Medizinprodukte aus Eigenherstellung müssen genau wie alle Medizinprodukte die grundlegenden Anforderungen erfüllen (§12 MPG). Der §12 MPG besagt zwar, dass diese Produkte ein Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen müssten:
Sonderanfertigungen dürfen nur in den Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, wenn die Grundlegenden Anforderungen nach § 7, die auf sie unter Berücksichtigung ihrer Zweckbestimmung anwendbar sind, erfüllt sind und das für sie vorgesehene Konformitätsbewertungsverfahren nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach § 37 Abs. 1 durchgeführt worden ist. […] Für die Inbetriebnahme von Medizinprodukten aus Eigenherstellung […] finden die Vorschriften des Satzes 1 entsprechende Anwendung.
MPG §12
Dieser Satz 1 spricht von einem „Konformitätsbewertungsverfahren nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach § 37 Abs. 1“. Diese Rechtsverordnung ist die Medizinprodukteverordnung MPV. Deren §7 ist überschrieben mit „Konformitätsbewertungsverfahren für die sonstigen Medizinprodukte„. Mit sonstige Medizinprodukte sind die Produkte gemeint, die nicht unter die AIMD bzw. IVDD fallen.
Zwar fordert dieser §7 MPV die Konformitätsbewertungsverfahren, aber nicht für Medizinprodukte aus Eigenherstellung. Die Hersteller müssen allerdings eine Erklärung ausfüllen, die die Übereinstimmung des Produkts mit den grundlegenden Anforderungen des Anhangs I bestätigt (§7 MPV Absatz (9).
Die Anforderungen an diese Erklärung entsprechen aber nicht denen an eine EU-Konformitätserklärung.
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Gesundheitseinrichtungen bei einer Eigenherstellung kein CE-Zeichen aufbringen muss.
Zu den wichtigsten grundlegenden Anforderungen zählen:
b) MDR
Die MDR möchte die Eigenherstellung nur dann erlauben, wenn es keine entsprechenden Produkte auf dem Markt gibt:
Gesundheitseinrichtungen sollten die Möglichkeit haben, Produkte hausintern herzustellen, zu ändern und zu verwenden, und damit — in einem nicht-industriellen Maßstab — auf die spezifischen Bedürfnisse von Patientenzielgruppen eingehen, die auf dem angezeigten Leistungsniveau nicht durch ein gleichartiges auf dem Markt verfügbares Produkt befriedigt werden können.
MDR: Erwägungsgrund (30)
Die in einer Gesundheitseinrichtung hergestellten (und ausschließlich dort genutzten) Produkte müssen kein Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen. Sie müssen aber die im Anhang I genannten grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen erfüllen.
Weiter fordert die MDR von den „Eigenherstellern“:
- QM-System für Herstellung und Verwendung
- Begründung, dass auf dem Markt kein gleichartiges Produkt gibt
- Öffentliche Erklärung u.a. mit Namen und Anschrift, Identifikation des Produkts, Erklärung zur Konformität (ist keine klassische Konformitätserklärung)
- Spezifikation des Produkts, der Zweckbestimmung und der Herstellung
- Sammeln und Bewerten der Erfahrungen mit dem Produkt. Falls notwendig CAPA.
3. Tipps
a) Tipps für Hersteller
Die meisten Streitfälle entstehen, wenn etwas passiert ist. Wenn Menschen oder Güter zu Schaden kamen oder eine juristische Klärung aus einem anderen Grund (z.B. Abmahnung) ansteht.
Diese Streitfälle könnten in den meisten Fällen vermieden werden, wenn Hersteller klare Regelungen getroffen hätten
- was genau die Zweckbestimmung des Medizinprodukts umfasst,
- welche Änderungen erlaubt sind und welche nicht (das betrifft auch den Virenschutz),
- mit welchen anderen Medizin- und Nicht-Medizinprodukten das eigene Produkt kombiniert werden darf,
- wer für Reparaturen, Updates und Upgrades berechtigt und ggf. verpflichtet ist,
- welche Voraussetzungen die Anwender erfüllen müssen (Ausbildung, Schulungen) und
- unter welchen Umständen der Hersteller einbezogen werden muss.
Hersteller sollten und müssen in der Risikoanalyse sehr sorgfältig die Auswirkungen analysieren. Bei Software sind das falsche Parametrisierungen, Konfigurationen oder falscher Programmierung durch die Anwender (Scripting). Zu diesen Auswirkungen zählen:
- Destablisierung des Systems: System stürzt ab, System wird durch umfangreiche Berechunngen ausgebremst
- Verfälschte Daten, Daten in falschen Einheiten, versehentlich gelöschte Daten, vertauschte Daten
- Falsche Workflows, Aufgaben erreichen die Zielperson nicht oder nicht zum gewünschten Zeitpunkt
- Falsche Berechtigungen: Personen sehen Daten, zu denen sie nicht befugt sind. Oder sie sehen Daten nicht, die sie für ihre Arbeit benötigen
b) Tipps für Betreiber und Gesundheitseinrichtungen
Den Betreibern sei v.a. Bewusstsein darüber empfohlen, welche regulatorischen Implikationen ihr Handeln hat. Produkte „einfach zusammenschalten“, neue Produkte und Verfahren am Patienten ausprobieren, das geht nicht. Ein Ethikvotum ist im letzteren Fall eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung. Die grundlegenden Anforderungen der Medizinprodukterichtlinie bzw. Medizinprodukteverordnung MDR müssen erfüllt sein. Und deren Einhaltung und deren Nachweis ist nicht banal.
Bei der MDR müssen die Gesundheitseinrichtungen eine schriftliche Begründung bereithalten, weshalb es keine gleichwertigen Produkte auf dem Markt gibt.
Wenn Betreiber das System im Rahmen der Zweckbestimmung parametrieren, konfigurieren oder programmieren, müssen sie die Auswirkungen ihres Tuns im Sinne einer Risikobewertung analysieren. Das sorgfältige Testen zählt auch in Krankenhäusern zu den Best Practices!
Update: In einer früheren Version dieses Artikels waren die Erklärung der Eigenhersteller und die EU-Konformitätserklärung nicht präzise unterschieden. Auch hieß es fälschlicherweise, für Medizinprodukte aus Eigenherstellung sei ein Konformitätsbewertungsverfahren notwendig.