Viele Behörden und Regularien sprechen von einem Risk
Based Approach, auf deutsch risikobasierter Ansatz. Allerdings definieren
sie diesen Begriff nicht und nennen auch keine Beispiele.
Dieser Artikel verschafft Ihnen einen Überblick darüber, was ein „Risk Based Approach“ ist und gibt konkrete Hinweise dazu, wie Firmen diese regulatorischen Anforderungen erfüllen können.
1. Risk Based Approach – um was es geht
a) Um welche Risiken / Schäden es geht
Die ISO 14971 definiert den Begriff „Risiko“ als die Kombination der Wahrscheinlichkeit eines Schadens und des Schweregrads dieses Schadens. Unter Schäden versteht die Norm v.a. physische Verletzungen und Beeinträchtigungen der Gesundheit. Aber auch Schäden für Güter oder die Umwelt zählt sie dazu.
Beim risikobasierten Ansatz sind hingegen neben den körperlichen Schäden für Patienten, Anwender und Dritte auch die Schäden bzw. Folgen aufgrund regulatorischer „Non-Compliance“ ergeben wie:
- Zertifikatsentzug
- Abweichungen im Audit
- Eine verzögerte oder verhinderte Ausstellung eines neuen Zertifikats
b) Anpassen der Aufwände an die Risiken
Beim risikobasierten Ansatz geht es darum, dass die Firmen die Aufwände im Rahmen des Qualitätsmanagements an die Risiken anpassen. Dies dient den folgenden Zielen:
- Unnötige Aufwände und Qualitätsbürokratie vermeiden
- Die Ressourcen auf die „kritischen“ Aspekte fokussieren
- Die Sicherheit sowie Gesetzeskonformität erhöhen
Abb. 1: Risk Based Approach – risikobasierter Ansatz: Fokus und Anpassen des Aufwands auf die Aspekte mit hohem Risiko (zum Vergrößern klicken)Beispiele für den Risk Based Approach sind:
- Das Risk Based Auditing
- Das Risk Based Testing
- Die Risk Based Maintenance
Der Risk Based Approach lässt sich somit wie folgt
definieren:
Definition: Risk Based Approach, risikobasierter Ansatz
„Ein Vorgehen im Qualitätsmanagement, das die Aufwände zum Minimieren von Risiken an die Größe dieser Risiken anpasst.“Quelle: Johner Institut
2. Regulatorischer Rahmen für einen risikobasierten Ansatz
a) ISO 13485:2016
Was die Norm fordert
Die umfangreichsten Vorgaben an den risikobasierten Ansatz stellt die ISO 13485:2016. Dieser Ansatz muss sich im Qualitätsmanagementsystem wiederfinden:
- Lenkung interner Prozesse (Kapitel 4)
- Lenkung ausgelagerter Prozess und Entscheidung über Auslagerung (Kapitel 4)
- Validierung von computerisierten Systemen (CSV) (Kapitel 4)
- Überprüfung der Wirksamkeit von Schulungen (Kapitel 6.2)
- Entwicklung von Produkten (Kapitel 7.1 – 7.3)
- Beurteilung und Auswahl von Lieferanten (Kapitel 7.4)
- Kontrolle der Lieferanten einschließlich Verifizierung der beschafften Produkte (Kapitel 7.4)
- Validierung von Prozessen und der Computersoftware (Kapitel 7.5 und 7.6)
- Verhindern ungewollter Resultate durch Verbessern des QM-Systems (Kapitel 8)
Was die Norm nicht fordert
Vorsicht!
Die ISO 13485:2016 verlangt in Kapitel 4.1 nicht die risikobasierte Lenkung aller Prozesse, sondern die der geeigneter Prozesse. Welche das zumindest sind, erwähnt die Norm in den jeweiligen Kapiteln. Dies entspricht der obigen Liste mit Ausnahme der Entwicklung.
Die ISO 13485:2016 stellt keine Anforderungen daran, wie und wo der Hersteller darlegen muss, wie er den risikobasierten Ansatz umsetzt. Insbesondere gibt es keine Anforderung, diesen in jedem Dokument zu diskutieren. Entsprechende Forderungen benannter Stellen entbehren einer rechtlichen Grundlage.
Das Johner Institut empfiehlt die Darlegung der Risiken und
des risikobasierten Ansatzes z.B. im Qualitätsmanagementhandbuch. Dazu später
mehr.
b) MDR
Die MDR erwähnt zwar das Konzept eines risikobasierten Ansatzes. Konkrete Anforderungen an die Hersteller formuliert sie aber nicht.
c) USA / FDA
Inspektionen
Die FDA basiert die Auswahl, Intensität und Frequenz von Inspektion bei Firmen ebenfalls auf einem „risk based approach“. Firmen werden mit einer höheren Wahrscheinlichkeit inspiziert,
- deren Produkte hohe Schäden verursachen können,
- die in der Vergangenheit bereits Probleme mit Produkten oder bei Inspektionen hatten.
Mit dem risikobasierten Ansatz schafft es die FDA, bei
begrenzten Mitteln eine möglichst hohe Wirksamkeit zu erreichen.
Risikobasierte Aufwände in den Guidance Documents
Die FDA verlangt in vielen „Guidance Documents“ einen „risk
based approach“. Dieser soll wie bei der ISO 13485 bei QM-relevanten Prozessen
wie der Validierung von Prozessen und Produkten Anwendung finden:
d) Sonderfall ISO 9001
Die ISO 9001 kennt seit der Version 2015 ebenfalls das
Prinzip des risikobasierten Ansatzes. Sie schreibt:
Maßnahmen zum Umgang mit Risiken und Chancen müssen proportional zur möglichen Auswirkung auf die Konformität von Produkten und Dienstleistungen sein.
Quelle: ISO 9001:2015 Kapitel 6.1
Die ISO 9001 hat ein teilweise anderes Verständnis des Begriffs Risiko als die ISO 13485. Ihr geht es auch um Firmenrisiken.
3. Den Risk Based Approach
umsetzen
a) Schritt 1: Risiken pro Prozess identifizieren
Listen Sie z.B. in Ihrem QM-Handbuch alle relevanten Prozesse auf und identifizieren Sie die damit verbundenen Risiken. Sie können dies in tabellarischer Form tun (s. Tabelle 1).
Bedenken Sie sowohl regulatorische Risiken als auch Risiken
im Sinne der ISO 14971 (insbesondere für die körperliche Unversehrtheit).
b) Schritt 2: Maßnahmen festlegen
In einer weiteren Spalte ergänzen Sie die Maßnahmen, mit
denen Sie die Risiken beherrschen wollen. Zu den möglichen Typen an Maßnahmen zählt
die ISO 9001:2015:
- Vermeiden von Risiken
- Akzeptieren von Risiken
- Verringern von Risiken durch Ändern des Schweregrads oder der Wahrscheinlichkeit des Schadens
- Beseitigen von Risiken („inhärente Sicherheit“) z.B. durch Beseitigen der Ursache
Diese Tabelle könnte beispielhaft wie folgt aussehen:
Prozess(bereich) | Verfahrens- und Arbeitsweisungen | Risiken | Maßnahmen |
Dokumentenlenkung | VA Lenkung von DokumentenVA Lenkung von Aufzeichnungen | Regulatorische Risiken: Dokumente sind nicht gelenkt Risiken nach ISO 14971: fehlerhafte Produkte wegen falscher Prüfanweisung | Beide VAs verlangen Einsatz eines DMS. Freigabeprozesse für neue Dokumente |
Personelle Ressourcen | VA Aus- und Weiterbildung AA Erfolgskontrolle | Regulatorische Risiken: Schulungen finden nicht statt, sind nicht dokumentiert, Erfolgskontrolle fehlt Risiken nach ISO ISO 14971: fehlerhafte Produkte, weil Mitarbeiter falsch entwickelt oder produziert | VA verlangt die Erfolgskontrolle und die regelmäßige Überprüfung der Umsetzung |
Produktrealisierung | VA Entwicklung VA Beschaffung AA Wareneingang VA Produktion | Entwicklung: fehlerhafte Produkte | VA Entwicklung: Design Review überprüft Einhaltung des Prozesses |
| | Beschaffung: Nicht-konforme Produkte wegen Komponenten, die nicht Spezifikationen entsprechen | VA Lieferanten verlangt Qualifizierung der Lieferanten AA verlangt Prüfung des Wareneingangs |
Tabelle 1: Zuordnung von Maßnahmen zu QM-Vorgaben
c) Schritt 3: Festlegen von Risikoklassen
Beim dritten Schritt legen die Hersteller Risikoklassen fest
wie z.B.:
Risikoklasse | Regulatorische Risiken | Risiken nach ISO 14971 |
A: klein | Minor Non-Conformity | Keine nennenswerten körperlichen Schäden |
B: mittel | Major Non-Conformity in Audit | Produktfehler, der zu körperlichen Verletzung oder Beeinträchtigung führen könnte |
C: groß | Entzug oder Aussetzung des Zertifikats Gerichtsprozess | Produktfehler, der zu irreversibler Schädigung oder Tod führen könnte |
Tabelle 2: Definition von Risikoklassen
Hinweis: Die beiden rechten Spalten beschreiben streng genommen keine Risiken, sondern Schweregrade von Schäden bei unklarer Wahrscheinlichkeit. Letztere sei als „vernünftigerweise vorhersehbar“ zu verstehen.
d) Schritt 4: Anpassen der Maßnahmen an die Risikoklasse
Nun gilt es, den Umfang der Maßnahmen (rechte Spalte in Tabelle 1) an das Risiko (die Risikoklasse) anzupassen. Dies ist der risikobasierte Ansatz.
Beispiel 1: Design Review
Der Aufwand von Design Reviews lässt sich an die
Risikoklassen anpassen. Dieser Aufwand lässt sich mit Hilfe von Stellschrauben
adaptieren wie:
- Frequenz
- Intensität:
Dauer, Prüfaspekte
- Beteiligte
- Usw.
Risikoklasse | Frequenz | Intensität | Beteiligte |
A: klein | Bei Freigabe der Systemspezifikation sowie zusammen mit Design Transfer | Checkliste A | Entwicklungs- und Projektleiter, Leiter QM, Leiter Produktion |
B: mittel | Wie bei A. Zusätzlich bei Freigabe der Systemarchitektur und vor Systemtests | Checklisten A + B | Wie bei A |
C: groß | Am Ende jeden Sprints (4-6 Wochen) | Checklisten A, B und C | Wie bei A. Zusätzlich „Product Owner“ |
Tabelle 3: Beispiel eines risikobasierten Ansatzes beim Design Review
Weiterführende Informationen
Lesen Sie hier mehr zum Thema Design Review.
Beispiel 2: Qualifizierung von Lieferanten
Der „risk based approach“ muss gemäß ISO 13485:2016 auch bei der Auswahl, Bewertung und Überwachung von Lieferanten Anwendung finden.
Risikoklasse | Zertifiziertes QMS | QSV | Lieferantenaudit | Selbstauskunft |
A: klein | | | | X |
B: mittel | | X | X | X |
C: groß | X | X | X | X |
Tabelle 4: Beispiel eines risikobasierten Ansatzes bei der Qualifizierung von Lieferanten
Beispiel 3: Validierung von Computersoftware
Bei der Validierung von Computersoftware haben die
Hersteller mehrere Dimensionen, um den Aufwand an die Risiken anzupassen:
- Funktionalität: Die Validierung kann sich auf „kritische“ Funktionen der Software konzentrieren. Diese Funktionalitäten drücken manche aus in Form von:
- Benutzungsszenarien oder Use Cases
- Software-Anforderungen
- Testverfahren: Abhängig vom Risiko können unterschiedliche Testverfahren zum Einsatz kommen
- Testen „Happy-Path“ versus fehlerbasiertes Testen
- Systematisches Ableiten von Testfällen mit Hilfe der Blackbox-Testverfahren wie äquivalenzklassenbasiertes Testen, grenzwertbasiertes Testen, Testen mit Entscheidungstabellen usw.
- Testabdeckung: Es gibt viele Maße, um die Testabdeckung zu quantifizieren:
- Anteil der getesteten Use Scenarios
- Anweisungsabdeckung
- Zweigabdeckung
- Prozentsatz der getesteten UI-Elemente
- U.v.m.
- Testaspekte nach ISO 25010
- Funktionalität
- Portabilität
- IT Security
- Gebrauchstauglichkeit
- Performanz (Zeitverhalten, Ressourcen-Verbrauch)
- Interoperabilität
- Robustheit
- Wartbarkeit
- Teststufen
- Unit-Tests
- Integrationstests
- Software-Systemtests
- Tests nach der Installation und Konfiguration in der Zielumgebung
- Sonstige Validierung z.B. Usability Tests
Beispiel 4: Wareneingang
Beim Wareneingang zählen zu den Stellschrauben für einen „risk
based approach“ beispielsweise:
- Prozentsatz der geprüften Teile
- AQL-Wert
- Anteil der geprüften Eigenschaften eines Teils
Beispiel 5: Software-Entwicklung
Die IEC 62304 setzt den risikobasierten Ansatz in Form der Sicherheitsklassen bereits um. Abhängig davon müssen Hersteller Aktivitäten wie ein detailliertes Design durchführen bzw. dokumentieren.
Hersteller haben die Freiheit, im Entwicklungsplan noch granularer das Risiko des jeweiligen Software-Systems zu berücksichtigen. Zu den möglichen Stellschrauben zählen:
- Alles im Beispiel 1 (Design Review) Genannte
- Alles im Beispiel 3 (CSV) Genannte
- Modellierungstiefe bei der Architektur
- Entscheidung für Automatisierung von Tests z.B. für die GUI
- Prozessmodell
- Anforderungen an die Kompetenz des Teams (explizite Forderung der ISO 13485:2016)
- Entscheidung über den Einsatz von SOUP und die Auslagerung von Teilen der Entwicklung
Fazit
Der Risk Based Approach gibt den Herstellern die Möglichkeit, ihre Aufwände für das Qualitätsmanagement an die Risiken anzupassen. Damit können sie die Aufwände auf die relevanten Aspekte – d.h. hohe Risiken – konzentrieren. Hersteller sollten von dieser Möglichkeit Gebrauch machen.
Hersteller sollten nicht nur bei der analytischen Qualitätssicherung (z.B. Audits, Inspektionen, Testing) risikobasiert vorgehen, sondern auch bei der konstruktiven Qualitätssicherung (z.B. Entwicklung, Wartung) sowie bei allen Post-Market Aktivitäten.
Der risikobasierte Ansatz darf nie dazu führen, dass Hersteller normative oder gesetzliche Anforderungen nicht erfüllen, zumal dies zu einem regulatorischen Risiko führen würde.
Manchmal lässt sich „risk based approach“ mit „gesunder Menschenverstand“ übersetzen. Hersteller und Auditoren sollten diesen walten lassen. Die Normen geben uns die Möglichkeit dazu.