Der Begriff „kritische Bauteile“ wird häufig im Kontext der IEC 60601-1 verwendet.
Beispielsweise sei eine „Liste kritischer Bauteile“ zu erstellen. Auch wenn die Norm den Begriff „kritisches Bauteil“ weder verwendet noch definiert, gibt es Gründe, eine solche Liste an Bauteilen zu führen.
Ob eine Komponente kritisch ist, sollte nicht nur aus Sicht der IEC 60601-1, sondern auch aus dem Blickwinkel anderer Normen wie der ISO 9001:2015 und ISO 13485:2016 bewertet werden. Weshalb dies der Fall ist, lesen Sie in diesem Artikel.
Kritische Bauteile: Begriffsdefinition und Beispiele
a) IEC 60601-1
Die IEC 60601-1 definiert weder den Begriff „Bauteil“ noch den Begriff „Bauelement“. Sie definiert aber, was ein „Bauelement mit Merkmalen hoher Zuverlässigkeit“ ist:
Definition: Bauelement mit Merkmalen hoher Zuverlässigkeit
„Bauelement, bei dem ein oder mehrere Merkmale sicherstellen, dass seine Funktion während der zu erwartenden Betriebslebensdauer des ME-Geräts bei bestimmungsgemäßem Gebrauch und bei vernünftigerweise vorhersehbarem Missbrauch hinsichtlich der Sicherheitsanforderungen dieser Norm fehlerfrei ist.“
Quelle: IEC60601-1
Die Norm nennt Beispiele für solche Bauteile / Bauelemente wie
- Motoren
- Transformatoren
- Trennvorrichtungen
- Schalter
- Netzanschlussleitungen
- usw.
b) UL
Der Begriff „kritische Bauteile“ stammt aus dem Prüfumfeld. Beispielsweise legt UL eine Liste von „critical components“ fest. UL ist eine amerikanische Organisation, die sich u.a. auf die Prüfung von Produkten (und Bauteilen) sowie das Schreiben zugehöriger Prüf- und Sicherheitsnormen spezialisiert hat.
Gemäß UL umfasst die Liste kritischer Bauteile die folgenden:
- Mains Components (Supply Cord, Grounding Connection etc.)
- Isolating Components (Transformers, Optic Isolators etc.)
- Protective Devices (Fuses, Fuseholders etc.)
- Wiring Components (Connectors, Interconnect Cables etc.)
- Heat Protection Components (Heat Sink, Fans etc.)
- Mechanical Injury Protection (Pressure Vessels, Switches etc.)
- Materials (Enclosure, Plastic Guards etc.)
- Marking (Warnings, Installation Manual etc.)
c) Test Report Forms
Die CB-Reports für die IEC 60601-1 verlangen im CB-Report Scheme IEC60601_1J (Version J) sowohl eine Liste kritischer Bauteile (Tabelle 8.10) als auch eine Liste der Bauteile mit Merkmalen hoher Zuverlässigkeit:

Dabei ist die Menge der Bauteile mit Merkmalen hoher Zuverlässigkeit eine Übermenge der kritischen Bauteile (s.a. Liste von UL).

Regulatorische Anforderungen an kritische Bauteile und Komponenten
Aus Sicht der IEC 60601-1
Die Kapitel 4.8 und 4.9 der Norm fordern bezüglich der Bauteile / Bauelemente Folgendes:
- Bauteile, deren Ausfall zu einer Gefährdungssituation führen kann, dürfen nur im Rahmen ihrer Spezifikation verwendet werden.
- Falls der Ausfall eines Bauteils zu einem unvertretbaren Risiko führen könnte, muss dieses Bauteil die Merkmale hoher Zuverlässigkeit aufweisen.
- Bauteile, die als Schutzmaßnahme verwendet werden, müssen entweder nach einer passenden Bauteile-Norm geprüft sein oder sie müssen gemäß IEC 60601-1 geprüft werden.
In Kapitel 8 beschreibt die Norm die Anforderungen an den Schutz vor elektrischen Gefährdungen.
Aus Sicht der ISO 13485:2016 und anderer QM-Normen
Weitere regulatorische Anforderungen finden sich beispielsweise in der ISO 13485:2016, in der ISO 9001:2015 und im 21 CFR part 820.
Diese QM-Normen verlangen, dass die Hersteller ihre Lieferanten und deren Produkte (z.B. Komponenten) und Dienstleistungen so auswählen, überwachen und ggf. über Qualitätssicherungsvereinbarungen an die Kandare nehmen (d.h. proaktiv lenken), dass Risiken minimiert werden. Dabei stehen die Risiken für Patienten, Anwender und Dritte im Vordergrund, die sich durch minderwertige zugelieferte Produkte und Dienstleistungen ergeben könnten.
Die ISO 9001 verlangt diesen Fokus auch auf Risiken für die Firma selbst zu erweitern, die zugelieferte Produkte und Dienstleistungen mit mangelnder Qualität verursachen könnten.
Fazit: Konkrete Anforderungen an Bauteile sowie den Begriff „kritische Bauteile“ kennen die QM-Normen nicht. Vielmehr sind in diesem Kontext (auch) die kritischen Lieferanten zu betrachten.
Weiterführende Informationen
Im Auditgarant gibt es Videotrainings, die diese regulatorischen Anforderungen vorstellen.
Wann ist eine Komponente kritisch?
Fasst man die Anforderungen der verschiedenen Normen zusammen, ist eine Komponente / ein Bauteil bzw. deren / dessen Lieferant kritisch, falls eine der folgenden Bedingungen zutrifft:
- Die IEC 60601-1 stellt konkrete Anforderungen an ein Bauteil. Deren Erfüllung muss im Test Report Form nachgewiesen werden.
- Das Produkt (z.B. die Komponente, das Bauteil) kann (auch unabhängig von 1.) eine Auswirkung auf die Sicherheit oder Leistungsfähigkeit der eigenen Produkte haben. Dies könnte der Fall sein, wenn eine oder mehrere der folgenden Fragen mit „ja“ beantwortet wird:
- Implementiert die Komponente ein wesentliches Leistungsmerkmal?
- Misst oder steuert diese Komponente?
- Würde eine Verschlechterung der Komponente die Basissicherheit gefährden?
- Implementiert die Komponente eine Maßnahme zur Risikobeherrschung?
- Könnte ein Überschreiten der Lebensdauer der Komponente zu einem Problem führen?
- Würde eine Verschlechterung der Komponente nicht oder nur teilweise durch risikominimierende Maßnahmen kompensiert?
- Können wir die Auswirkungen einer Verschlechterung der Komponente nicht vollständig abschätzen?
- Können wir die Qualität der Komponente nicht ausreichend vollständig testen (z.B. Software)?
- Ist die Komponente nicht inhärent sicher?
- Hat die Komponente direkten Kontakt mit dem Patienten?
- Nutzt oder produziert die Komponente Energie?
- Verwenden wir für die Komponente oder für deren Produktion Technologien, Materialien, Werkzeuge oder Verfahren, mit denen wir noch keine umfassenden Erfahrungen gesammelt haben?
- Stellen wir wegen dieser Komponente besondere Anforderungen an die mess- und sicherheitstechnischen Kontrollen der Betreiber?
- Ohne das Produkt oder die Dienstleistung kann der Hersteller seine Produkte oder Dienstleistungen nicht erbringen und es gibt keinen alternativen und gleichwertigen Lieferanten.
Ob der zweite Punkt zutrifft, leitet sich aus dem Risikomanagement ab. Der dritte Punkt ist ein Ergebnis beispielsweise einer Marktrecherche.
Auf was muss man bei kritischen Komponenten achten?
Bezüglich Punkt 1 (IEC 60601-1, kritische Bauteile)
Bei kritischen Bauteilen spezifiziert bereits die IEC 60601-1 die Anforderungen. Deren Einhaltung stellen Hersteller sicher, in dem sie zertifizierte Bauteile kaufen oder diese selbst wie in der Norm beschrieben testen. Die entsprechenden Vorgaben dazu sind ebenso präzise wie umfangreich.
Bezüglich Punkt 2 (Risiko)
Damit eine Komponente nicht kritisch im Sinn des zweiten Punkts wird, muss der Hersteller sicherstellen, dass sie sich wie spezifiziert verhält und dass die Spezifikation korrekt ist. Wie bei allen Produkten gibt es sowohl konstruktive als auch analytische Elemente der Qualitätssicherung wie die folgenden:
- Zusätzliche Prüfungen der Spezifikation selbst
- Besondere Anforderungen an die Wareneingangskontrolle (entweder von Unterkomponenten bzw. der Komponente selbst, falls diese von extern stammen)
- Qualitätssicherungsvereinbarungen mit Lieferanten der Komponente bzw. von Subkomponenten, die beispielsweise regeln sollten:
- Verpflichtung zu bestimmten Methoden der Endprüfung
- Verpflichtung, über Änderungen am Produktionsverfahren, an den Materialien oder gar der Konstruktion vorab(!) zu informieren
- Verpflichtung, nur Personal mit einer spezifizierten Qualifikation an der Herstellung bzw. Entwicklung zu beteiligen
- Verpflichtung über identifizierte Probleme, die eine Auswirkung auf die Qualität der Komponente (z.B. Funktionalität, Performanz, Robustheit) Einfluss haben können, unverzüglich zu informieren
- Zusätzliche Anforderungen an Lieferantenaudits
- Besondere Prüfschritte am Ende der Entwicklung und in der Produktion
- Beschränkung (oder genauere Spezifikation) der Lebensdauer der Komponente bzw. des Produkts
- Zusätzliche Anforderungen an den Service oder die Betreiber (z.B. sicherheits- oder messtechnische Kontrollen im Sinne der MPBetreibV oder sonstige Wartungen nach Herstellervorgaben)
- Hinweise an die Anwender, damit diese z.B. Fehler schneller und einfacher erkennen können
- Zusätzliche Vorgaben an die Marktbeobachtung
- zu überprüfende Quellen
- zu überprüfende Kriterien
- Frequenz
- Suche nach (besseren) Alternativen
- klinische Nachbeobachtung (PMCF)
Diese Aufzählung geht davon aus, dass die Möglichkeiten ausgeschöpft sind, das Risiko durch weitere Maßnahmen zu minimieren und damit die Komponente weniger kritisch sein zu lassen.
Bezüglich Punkt 3 (Abhängigkeit von Lieferant)
Die Risiken, die sich dadurch ergeben, dass der Hersteller von einem Lieferanten abhängig ist, müssen beherrscht werden. Dazu können folgende Strategien in Erwägung gezogen werden:
- Verträge, die eine Verpflichtung enthalten, Komponenten einer gewissen Menge in einer spezifizierten Qualität innerhalb einer festgelegten Frist zu einem definierten Preis zu liefern.
- Ausreichende Bevorratung der Komponenten
- Escrow-Agreements, die dem Hersteller es im Fall, dass der Lieferant nicht mehr lieferfähig oder lieferwillig ist, gestatten, auf Entwicklungs- und Produktionsunterlagen zuzugreifen, um die Komponente in eigener Regie entwickeln zu können.
Diese Aufzählung geht davon aus, dass die Möglichkeiten ausgeschöpft sind, alternative Lieferanten zu identifizieren bzw. aufzubauen.
Welche Verfahrens- und Arbeitsanleitungen sind in diesem Kontext relevant?
Folgende Arbeits- und Verfahrensanweisungen können spezifische Festlegungen für kritische Bauteile bzw. Komponenten bzw. Lieferanten enthalten:
- Entwicklung
- Verifikation und Validierung
- Produktion
- Bei Komponenten oder Komponentenbauteilen, die extern entwickelt/bezogen werden:
- Wareneingang
- Einkauf
- Lieferantenauswahl und Lieferantenbewertung (siehe auch Checkliste Lieferanten)
- Lieferantenüberwachung
- Umgang mit nichtkonformen Produkten
- Marktüberwachung / Post-Market Surveillance
Weiterführende Informationen
Der Auditgarant erklärt Schritt für Schritt, wie man all diese Verfahrensanweisungen erstellt, und stellt Beispieldokumente bzw. Templates zur Verfügung.