Die „Implant Files“ waren Ende November 2018 in vielen Zeitungen die Top-Schlagzeile. Die Süddeutsche Zeitung schreibt: „Das Ergebnis dieser Recherche, die Implant Files, belegt einen Skandal, der sich Tag für Tag in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt wiederholt – ohne dass jemand davon Notiz nimmt.“
Haben wir einen Skandal? Falls ja, wird die neue Medizinprodukteverordnung MDR helfen, diese Missstände zu beseitigen?
Viele Leser des Instituts-Journals haben uns um Antworten und unsere Meinung zu den „Implant Files“ gebeten.

Implant Files: Sind die Vorwürfe berechtigt?
Das Investigativ-Team u.a. von der Süddeutschen Zeitung erhebt zahlreiche Vorwürfe.
Vorwurf | Einschätzung des Johner Instituts |
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Viele Medizinprodukte, insbesondere Implantate, sind unsicher. | Der BVMED weist in seiner Erklärung darauf hin, wie viele Medizinprodukte Millionen Patienten helfen. Das ist unbestritten. Aber: Die Chronologie der Zwischenfälle zeigt auch, dass regelmäßig Patienten vermeidbaren Risiken ausgesetzt sind und z.T. schwerste Körperschäden erleiden. Jeder unnötig geschädigte Patient ist einer zu viel. Das lässt sich durch eine Nutzen-Risiko-Abwägung nicht relativieren, weil viele Schäden vermeidbar gewesen wären. |
Die Hersteller denken nur an den Profit. | Die Differenzierung, ob ein unangemessenes Profitstreben oder ein Organisationsversagen ursächlich war, wird kaum gelingen. Das Johner Institut arbeitete und arbeitet mit einer vierstelligen Anzahl an Herstellern zusammen und schätzt, dass die Anzahl der schwarzen Schafe im niedrigen einstelligen Bereich liegt. |
Prüfstellen arbeiten nicht sauber („In der EU entscheiden etwa 50 Prüfstellen, in Deutschland zum Beispiel TÜV oder Dekra, darüber, ob ein Medizinprodukt verkauft werden darf. Sie vergeben dafür das CE-Kennzeichen.“) | Die benannten Stellen sind erst einmal keine Produkt-Prüfstellen, sondern Institutionen, die i.d.R. Qualitätsmanagementsysteme und technische Dokumentationen prüfen. Diese Prüfungen sind Stichprobenprüfungen. |
Das Prüfverfahren ist ungeeignet. Die Süddeutsche Zeitung schreibt: „Möglich ist dies aufgrund des sogenannten Äquivalenzprinzips: Es erlaubt die direkte Zertifizierung eines medizinischen Produkts ohne klinische Studien oder Tests. Einzige Voraussetzung: Es muss bereits ein ähnliches Produkt auf dem Markt sein, das irgendwann einmal an Menschen getestet worden ist.“ | Es ist falsch, dass Produkte alleine deshalb zugelassen werden, weil es ähnliche Produkte bereits im Markt gibt. So ein Zulassungsverfahren gibt es in den USA (510(k)), aber nicht in Europa. Allerdings wurden die Anforderungen an die Äquivalenz der Produkte bei der klinischen Bewertung in der Vergangenheit regelmäßig (zu) großzügig ausgelegt. Mit der neuen EU Leitlinie MEDDEV 2.7/1 wurden diese Anforderungen substanziell erhöht. Die benannten Stellen fordern dies auch streng ein, so streng, dass der Sinn des Äquivalenzprinzips in Frage steht. Unnötige klinischen Prüfungen nicht nur den Herstellern, sondern auch den Patienten zu ersparen. Was bewiesen ist, muss nicht nochmals bewiesen werden. |
Das Prüfverfahren ist ungeeignet: „Über die Zertifizierung entscheidet das Prüfunternehmen viertens oft nur anhand der eingereichten Unterlagen – das Produkt selbst wird nicht beurteilt.“ | Diese Aussage stimmt insbesondere bei Implantaten in dieser Allgemeingültigkeit nicht. Bei Hochrisikoprodukten ist genau die Prüfung der Produktauslegung explizit gefordert und wird auch durchgeführt. |
Prüfunternehmen sind nicht neutral: „Drittens ist das Prüfunternehmen nicht unabhängig, es wird vom Hersteller beauftragt – und bezahlt.“ | Die Alternative zu den benannten Stellen ist eine staatliche Zulassungsstelle wie das Kraftfahrtbundesamt KBA in Deutschland oder die FDA in den USA. Die FDA prüft selbst auch keine Produkte. Das Totalversagen des KBAs in der „Diesel-Affäre“ erzwingt nicht den Schluss, dass staatliche Stellen besser geeignet seien. Die Leser des Instituts-Journals sind Zeuge geworden, dass die staatlichen Behörden bei Hinweisen zu Problemen wenig hilfreich sind. |
Das Überwachungssystem funktioniert nicht: „Und wenn der Hersteller nicht von selbst reagiert, könnte sich das BfArM einschalten. 1100 Menschen arbeiten hier, sie dürfen aber nur Empfehlungen aussprechen, nichts anordnen und nichts verbieten. Dem Amt, das die Patienten schützen soll, stehen keinerlei Instrumente zur Verfügung, die irgendjemand Respekt einflößen würden. Nur die Landesbehörden können echten Druck ausüben, machen davon aber kaum Gebrauch.“ | Das ist leider zutreffend. Das BfArM sagt von sich selbst, dass es ein ziemlich zahnloser Tiger sei. Manchmal entsteht der Eindruck, dass das BfArM im Kontext der Medizinprodukte seine Hauptaufgabe in der Publikation der Risikomeldungen der Hersteller sieht. Die Landesbehörden führen keine (wahrnehmbare) aktive Überwachung durch und reagieren selbst auf Anfragen zurückhaltend. Ein wirksames Überwachungssystem sieht anders aus. |
Die Behörden informieren nicht („Und das BfArM selbst lässt wissen, die Öffentlichkeit zu informieren, sei „nicht einmal teilkongruent“ mit den Aufgaben des Amtes. Heißt übersetzt: Transparenz nicht vorgesehen.“) | Wahrscheinlich gibt es bei diesem Punkt einen Konsens zwischen BfArM, den Investigativ-Journalisten und dem Johner Institut. Doch wer ist dann für die Information und Marktüberwachung zuständig? |
Lobbyisten verhindern schärfere Maßnahmen. | Darüber, wie erfolgreich die Lobbyisten waren und sind, lässt sich nur spekulieren. Die MDR spricht aber nicht dafür, dass sich die Lobbyisten gänzlich durchsetzen konnten. |
Implant Files: Wird die MDR diese Probleme lösen?
Die MDR erhöht die Anforderungen insbesondere an die Hersteller von Implantaten spürbar. Beispiele dafür sind:
- Für diese hochkritische Produkte führt die MDR ein sogenanntes Scrutiny-Verfahren ein.
- Bei diesen Produkten verlangt die MDR (von Ausnahmen abgesehen) immer eine klinische Prüfung.
- Die MDR formuliert neue, strengere und detaillierte Anforderungen an die Post-Market Surveillance.
- Die Anforderungen an die benannten Stellen und deren Kompetenz wurden erhöht – so sehr, dass der Engpass an benannten Stellen weiter verschärft und damit die Inverkehrbringung neuer Produkte behindert wird.
Die MDR wird es den Herstellern erschweren, gesundheitsschädliche Medizinprodukte in den Verkehr zu bringen. Das ist auch gut so. Aber ganz verhindern wird sie die Probleme, die die Implant Files benennen, nicht:
- Kriminelle lassen sich nicht durch schärfere Gesetze von Straftaten abhalten.
- Alle Prüfungen sind Stichprobenprüfungen. Einen Beweis für die Sicherheit kann es nicht geben.
- Leider sind bei Medizinprodukten Nebenwirkungen häufig normal und unvermeidbar. Wer sich beispielsweise einer CT-Untersuchung aussetzt, hat einen Strahlenschaden. Mit der Abwägung, was akzeptable Risiken sind, tun sich fast alle Hersteller schwer, zumal die Risikoakzeptanz auch eine individuelle Entscheidung von Patienten sein sollte. Dass vermeidbare Schäden auch vermieden werden müssen, forderte bereits die MDD.
- Manipulationen in klinischen Daten sind sehr schwer zu erkennen. Benannte Stellen verfügen nicht über die notwendige kriminalistische Ausbildung.
- Fehler im Studiendesign bedürfen erfahrener Biostatistiker. Auch mit dieser Kompetenz tun sich benannte Stellen schwer.
- Erfolgreiche Tierversuche und Labortests sind unabdingbar. Dennoch lässt sich insbesondere bei Implantaten der finale Beweis, dass die Produkte auch nach Jahren der Nutzung noch sicher und leistungsfähig sind, nur dadurch erbringen, dass man die Implantate jahrelang nutzt. An dieser Tatsache kann auch die MDR nichts ändern.
Implant Files – ein Fazit
Zusätzliche gesetzliche Anforderungen sind noch keine Lösung.
Die Probleme, die die Implant Files aufzeigen, sind vorrangig nicht auf zu laxe Gesetze zurückzuführen, sondern eher darauf, dass niemand deren Einhaltung erzwingt. Eine wirklich aktive und wirksame Marktüberwachung, wie sie eigentlich von der EU vorgesehen ist, existiert nicht.
Daher ist die Hoffnung, dass die Verschärfung von Gesetzen zu mehr Sicherheit führt, ebenso töricht, wie zu glauben, dass man die Anzahl der Raser reduziert, indem man das Tempolimit herabsetzt, dieses Tempolimit aber für jeden offensichtlich nicht kontrolliert.
Leider bedenken die Gesetzgeber nicht die negativen Folgen von Gesetzesverschärfungen:
- Diese zusätzlichen (nicht zuletzt bürokratischen) Hürden sind für kleine und innovative Firmen zunehmend unüberwindbar. Wie viele Patienten durch nicht-existierende Medizinprodukte den Tod erleiden, hat niemand berechnet.
- Insbesondere bei wiederverwendbaren chirurgischen Instrumenten fürchten erste Krankenhäuser Versorgungsengpässe.
- Im Gegensatz zur FDA bedenken die europäischen Gesetzgeber nicht die Auswirkungen auf die Wirtschaft und Innovationskraft. Deutschland ist im „Digital Health Index“ bereits auf einen der letzten Plätze zurückgefallen. „Digitale Neuheiten kommen nicht ausreichend bei Patienten an“ schlussfolgert die Bertelsmann-Stiftung.
Schärfere Gesetze lösen somit nicht zwingend die (Sicherheits-)Probleme. Vielmehr haben sie das Potenzial neue (Sicherheits-)Probleme zu verursachen.
Ein Blick auf die Behörden
Wer aufrichtig wünscht, Patienten vor gefährlichen Medizinprodukten zu schützen, muss die Behörden befähigen, ihren Beitrag dazu zu leisten. Das bedingt:
- Eine gesetzliche Basis: Dass das BfArM sich für vieles nicht zuständig fühlt oder fühlen darf, ist ein Teil des eigentlichen Skandals.
- Ausreichend personelle und finanzielle Ressourcen
- Eine Struktur und Kultur, die fähige Menschen anziehen. Behörden sind zwingend auf Menschen angewiesen, die nicht blind Vorschriften umsetzen, sondern auf Experten, die ob ihrer Kompetenz u.a. in den Bereichen Risikomanagement, Medizin und Technologie kluge Entscheidungen treffen.
Das Johner Institut wünscht sich von den Bundes- und Länderbehörden:
- Aktivere und kompetente Marktaufsicht
- Unterstützung bei der Interpretation und Umsetzung der regulatorischen Anforderungen
Dass die FDA in diesem Kontext als positives Beispiel genannt werden würde, hätte vor wenigen Jahren niemand vermutet. - Zeitnahe Reaktion auf Anfragen sowie eine aktive Kommunikation und Interaktion mit den Herstellern
Eine Behörde sollte sich nicht als eine uneinnehmbare Festung darstellen, sondern als Dienstleister der Gesellschaft agieren. Daher bedauern wir, dass Hersteller regelmäßig keine, verzögerte oder wenig hilfreiche Antworten auf ihre (An-)Fragen erhalten.
Zum Vergleich: Das Johner Institut hat in den letzten 20 Monaten 2597 Anfragen kostenfrei beantwortet – in 99% der Fälle bis zum Ende des nächsten Arbeitstags. Anfragen über den Blog oder per E-Mail sind darin nicht mitgerechnet. Viele dieser Anfragen betrafen
- die Klassifizierung der Produkte,
- die Interpretation von Normen,
- die Umsetzung gesetzlicher Anforderungen,
- Auseinandersetzungen mit Behörden usw.
Wären das nicht die originären Aufgaben der Behörden, die wie z.B. das BfArM mit 1.100 Angestellten besser ausgestattet sind?
Wir werden besser, aber…
Die „Implant Files“ dokumentieren – wenn gleich etwas zu reißerisch – Probleme mit unsicheren Medizinprodukten. Anstatt das ganze System in Frage zu stellen, plädiert das Johner Institut für eine Verbesserung des Systems. Dieser Prozess hat zum Glück längst begonnen:
- Die benannten Stellen haben ihr Personal deutlich mit Experten wie Ärzten aufgestockt und „prüfen“ daher intensiver und kompetenter.
- Die regulatorischen Anforderungen sind verschärft worden, nicht nur durch die MDR, sondern beispielsweise auch durch die MEDDEV 2.7/1.
- Benannte Stellen mit zweifelhafter Kompetenz, Neutralität und Gesetzestreue wurden geschlossen.
Dennoch darf niemand ruhen. Eine Selbstzufriedenheit und Relativierung der Probleme durch die Medizinproduktehersteller (s. Stellungnahme des BVMEDs) halten wir für nicht angebracht. Vielmehr schließen wir uns dem Fazit der DeviceMed an:
„Der Verband und die gesamte Branche werden nicht umhin kommen, sich intensiv mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen. Insofern stehen wir am Beginn einer Diskussion, die geführt werden muss, nicht an deren Ende!“
Die Implant Files: Panikmache oder Grund zur Sorge?
Den Journalisten würde man Unrecht tun, ihre Arbeit als Panikmache abzutun, auch wenn sie damit vielen Patienten unnötige Sorgen bereiten. Eine journalistische Überzeichnung ist notwendig, um die Beteiligten aufzurütteln. Ja, bei manchen Produkten besteht ein Grund zur Sorge.
Alle Hersteller, die benannten Stellen und die Behörden sollten die Veröffentlichungen zum Anlass nehmen, noch mehr Anstrengungen zu unternehmen, um Risiken durch unsichere Medizinprodukte zu minimieren. Wir am Johner Institut werden weiter unseren Beitrag dazu leisten und helfen gerne auch kostenfrei. Lassen Sie uns wissen wie.