Sowohl die MDR als auch die IVDR messen den Common Specifications ein deutlich höheres Gewicht bei. Die Common Specification übersetzt man im Deutschen als „gemeinsame Spezifikationen“, manchmal auch als „gemeinsame technische Spezifikationen“.
Definition der Common Specifications
Die MDR und die IVDR definieren die Common Specifications wie folgt:
„gemeinsame Spezifikationen“ […] bezeichnet eine Reihe technischer und/oder klinischer Anforderungen, die keine Norm sind und deren Befolgung es ermöglicht, die für ein Produkt, ein Verfahren oder ein System geltenden rechtlichen Verpflichtungen einzuhalten.
Ziel der Common Specifications
Sowohl die EU-Richtlinien wie die MDD und IVDD als auch die EU-Verordnungen wie die MDR und IVDR legen sogenannte grundlegende Anforderungen fest, die Medizinprodukte erfüllen müssen. Andernfalls dürfen Hersteller sie nicht auf dem Markt bringen.
Bei einem Audit oder einer Prüfung der technischen Dokumentation sollte möglichst eindeutig entschieden werden können, ob diese Anforderungen erfüllt sind. Hierfür sind klare Entscheidungskriterien hilfreich.
Normen enthalten solche spezifischen Kriterien. Die EU-Richtlinien und Verordnungen erlauben es den Herstellern, harmonisierte Normen zur Beweisführung zu verwenden. Wo harmonisierte Normen fehlen oder nicht ausreichen, fehlen solche spezifischen Kriterien. Genau diese Lücke sollen die Common Specifications, die gemeinsamen Spezifikationen, füllen.
Die Kommission darf auch dann Common Specifications festlegen, wenn den „Belangen der öffentlichen Gesundheit Rechnung getragen“ werden muss – was auch immer das bedeutet.
Wer die gemeinsamen Spezifikationen festlegt
Die EU-Kommission sieht sich zum Erlass gemeinsamer technischer Spezifikationen in Bereichen befugt, in denen es keine harmonisierten Normen gibt oder diese unzureichend sind.
Der Artikel 105 legt die Aufgaben der „Koordinierungsgruppe Medizinprodukte“ fest. Dazu zählt die Mitwirkung bei der Entwicklung von Normen, der gemeinsamen Spezifikationen und wissenschaftlichen Leitlinien, einschließlich produktspezifischer Leitlinien.
Der Artikel 106 ergänzt, dass auch Expertengremien und Fachlaboratorien an der Ausarbeitung und Weiterentwicklung geeigneter Leitlinien und gemeinsamen Standards mitwirken.
Im Vorwort schreibt die MDR: „Die GS [gemeinsamen Spezifikationen] sollten nach Anhörung der einschlägigen Interessenträger und unter Berücksichtigung der europäischen und internationalen Standards ausgearbeitet werden“.
Für welche Bereiche Common Specifications zu erwarten sind
Trägt man die Festlegungen der MDR zusammen, stellt man fest, dass die Common Specifications v.a. in diesen Bereichen zu erwarten sind:
Das betrifft v.a. folgende Produkte
- Implantierbare Produkte
- Produkte der Klasse III
- Produkte der Klasse IIb, die dazu bestimmt sind, ein Arzneimittel an den Körper abzugeben und/oder aus dem Körper zu entfernen
- Bestimmte Produktgruppen, die einem Hersteller zufolge lediglich eine kosmetische oder sonstige nicht-medizinische Zweckbestimmung haben, die aber hinsichtlich ihrer Funktionsweise und Risikoprofile Medizinprodukten ähneln
- Einmalprodukte
Regulatorische Anforderungen
Anforderungen an die Kommission
Die Kommission lässt sich alle Türen offen. Laut Artikel 9 kann sie, muss aber nicht die gemeinsamen Spezifikationen festlegen.
Anforderungen an die Hersteller
Common Specifications einhalten: Hersteller müssen die Common Specifications (CS) erfüllen. Laut Artikel 9 ist eine Ausnahme nur dann möglich, wenn sie „angemessen nachweisen, dass die von ihnen gewählten Lösungen ein diesen mindestens gleichwertiges Sicherheits- und Leistungsniveau gewährleisten“.
Dieser Nachweis wird i.d.R. nicht möglich sein. Damit erlangen die Common Specification gesetzlichen Charakter.
Common Specifications auf Konformitätserklärung: Die Hersteller müssen die CS auf der Konformitätserklärung angeben (im Gegensatz zu den harmonisierten Normen), die sie befolgen (Anhang IV (7).
Vorsicht!
Der Anhang IV(7) enthält einen Übersetzungsfehler. Bitte nutzen Sie die englische Version. Alle („any“) CS müssen angegeben sein!
Anforderungen nicht nur an Produkte: Ggf. müssen die Hersteller nicht nur bei den Produkten, sondern bei den Qualitätsmanagementsystemen auf Konformität mit den gemeinsamen Spezifikationen achten.
CS im Kurzbericht: Der Kurzbericht über Sicherheit und klinische Leistung muss einen Hinweis auf alle harmonisierten Normen und angewandten CS enthalten.
Der Plan für die klinische Nachbeobachtung: Auch der Plan für die klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen muss Verweise auf alle einschlägigen Common Specifications und harmonisierten Normen enthalten.
Anforderungen an die benannten Stellen
Die benannten Stellen müssen bei Audits und Prüfungen von technischen Dokumentationen die Einhaltung der Common Specifications auch dann überprüfen, wenn der Hersteller diese nicht referenziert. Das steht im Anhang VII „4.5. Konformitätsbewertungstätigkeiten“.
Bei einer Baumusterprüfung gilt das Entsprechende.
Woher das Konzept der „Common Specifications“ stammt
Es ist nicht zutreffend, dass die Common Specifications von der MDR und IVDR erstmalig eingeführt werden. Vielmehr nennt bereits die Richtlinie 98/79/EG diese gemeinsamen Spezifikationen. In Artikel 5 „Reference to standards“ bestimmt die IVDD, dass die Konformität mit den grundlegenden Anforderungen angenommen werden soll, wenn harmonisierte Normen oder wenn eben diese gemeinsamen Spezifikationen erfüllt sind.
Kritik
Mit dem Konzept hat sich die EU-Kommission selbst dazu befugt, fast nach Belieben die Anforderungen an Medizinprodukte zu verschärfen. Sie kann damit die Normengremien enorm unter Druck setzen oder umgehen, falls diese nicht nach dem Willen der Kommission agieren.
Weder der parlamentarische Weg noch die Konsensfindung in internationalen Normengremien beschränkt die Freiheiten der Kommission. Expertenpanels und die Koordinierungsgruppe Medizinprodukte müssen nur gehört werden und mitarbeiten. Entscheidungsbefugt sind sie nicht.
Weshalb die Kommission der Meinung ist, besser als die Normengremien Spezifikation festzulegen, bleibt ein Rätsel. Die Regel 11 mag als Beispiel dafür dienen, dass in deren Reihen niemand zu sein scheint, der jemals selbst ein Medizinprodukt entwickelt und in Verkehr gebracht hat.
Einmal mehr drängt sich der Eindruck auf, dass unter dem Deckmantel der Patientensicherheit die Anforderungen so hoch geschraubt werden, dass künftig Produkte fehlen werden, die der Patientengesundheit dienen sollten.